Hallo Ihr Lieben,
nach dem ersten Teil unserer Reise durch die deutsche Migrationspolitik haben wir die rechtlichen Grundlagen kennengelernt – wer darf kommen, wer darf bleiben, und wer bekommt welche Leistungen. Dabei wurde deutlich: Das heutige System befindet sich in einem immer währenden Wandel und wird durch politische und rechtliche Einflüsse auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene geprägt. Doch um zu verstehen, warum unsere Gesellschaft heute so über Migration denkt und diskutiert, müssen wir tiefer graben.
Denn die Fragen, die uns heute beschäftigen – "Wer gehört dazu?", "Wer ist nützlich für die Gesellschaft?", "Wie viele Fremde verträgt unser Land?" – sind alles andere als neu. Sie prägen die deutsche Geschichte seit Jahrhunderten. Schon im 17. Jahrhundert entwickelten Staatstheoretiker und Verwaltungsexperten systematische Überlegungen darüber, wie man Menschen als "Ressource" betrachten und Migration gezielt steuern kann.
In diesem zweiten Teil unserer Serie möchte ich mit Euch eine Zeitreise unternehmen: Vom verheerenden Dreißigjährigen Krieg, der ganze Landstriche entvölkerte, über die gezielte Anwerbung der Hugenotten, bis zur Entstehung der ersten Staatsangehörigkeitsgesetze im Kaiserreich. Wir werden sehen, wie sich das Denken über "Nützlichkeit" und "Fremdheit" entwickelte – und wie es bis heute nachwirkt.
Diese Geschichte ist keine trockene Vergangenheit, sondern hilft uns zu verstehen, woher unsere heutigen Vorstellungen von Integration, Leistung und Zugehörigkeit eigentlich kommen. Sie zeigt uns auch, dass Migration Deutschland nicht bedroht hat, sondern es über Jahrhunderte geprägt und bereichert hat – auch wenn das nicht immer konfliktfrei verlief.
Macht Euch bereit für eine Reise durch 400 Jahre deutsche Migrationsgeschichte!
Migration ist kein neues Phänomen, sondern ein grundlegender Bestandteil der deutschen Geschichte. Schon lange bevor nationale Grenzen festgelegt wurden, prägten Menschenbewegungen das Land: Händler, Handwerker, Glaubensflüchtlinge, Vertriebe und Arbeitsmigranten gestalteten Städte, Dörfer und das wirtschaftliche sowie kulturelle Gefüge immer wieder neu. Ob Flucht vor religiöser Verfolgung im Mittelalter, gezielte Ansiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg oder die Aufnahme der Hugenotten in Brandenburg – Migration war stets Ausdruck von Not, Hoffnung und politischem Kalkül.
Die Art und Weise, wie Migration geregelt, bewertet und organisiert wurde, spiegelt die jeweiligen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Interessen der Zeit wider. Oft war dies von einem Spannungsfeld geprägt: Einerseits suchte man nach produktiven Zuwanderern, die zur Entwicklung beitrugen, andererseits entstanden feine Unterscheidungen, wer willkommen war und wer ausgeschlossen blieb. Vom Flickenteppich regionaler Regeln bis zur Entstehung moderner Nationalstaaten wandelten sich die Modelle von Steuerung, Kontrolle und Integration – aber die Frage nach Zugehörigkeit und Anderssein blieb beständig präsent. Ein Blick in die Geschichte macht deutlich: Migration hat Deutschland nicht nur geprägt, sondern immer wieder herausgefordert – und eröffnet auch für heutige Debatten wichtige Perspektiven auf Wandel, Vielfalt und das Ringen um Teilhabe.
Bereits in der Antike finden sich erste systematische Überlegungen zur staatlichen Steuerung von Bevölkerung und Migration. Platon diskutierte in seinem Idealstaat Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum, Ressourcenknappheit und sozialer Stabilität und entwickelte Vorstellungen zur gezielten Regulierung der Gesellschaftsstruktur.¹ Diese Ideen entwickelten sich in der frühen Neuzeit der europäische Staatenwelt zu einem neuen Verständnis von Bevölkerung und Migration: Nicht länger galten Untertanen als gegebene Größe – ihre Zahl, ihre Zusammensetzung und auch ihre Bewegung wurden explizit zum Gegenstand von Politik und Verwaltung (Nipperdey, S. 41–119)². Die Vorstellung, das Wachstum und die Verteilung der Bevölkerung steuern zu können, wurde zum Leitbild des aufstrebenden modernen Staates und prägte den Umgang mit Migration und Zuwanderung nachhaltig (Nipperdey, S. 123–162)².
Im Zentrum dieses neuen Politikverständnisses stand das sogenannte „populationistische" Denken: Der Wohlstand und die Sicherheit des Staates hingen direkt von der Zahl und Produktivität seiner Bewohner ab. Migration wurde als strategisches Mittel begriffen – als Chance, gezielt „nützliche" Bevölkerungsgruppen (etwa Glaubensflüchtlinge oder spezialisierte Arbeitskräfte) anzuwerben und langfristig zu binden, während andere Gruppen als Gefahr für Ordnung und Wohlfahrt galten (Nipperdey, S. 164–196, 331–362)².
Diese Sichtweise war eng verbunden mit dem Kameralismus – einer Verwaltungs- und Wirtschaftslehre, die den Staat als rationale Ordnungsinstanz betrachtete und systematische Methoden zur Steigerung von Staatseinnahmen und Bevölkerungswachstum entwickelte – sowie dem Merkantilismus, einer Wirtschaftstheorie, die den Reichtum eines Staates an der Anhäufung von Edelmetallen, einem positiven Handelssaldo und einer großen, produktiven Bevölkerung maß.¹ Diese Ansätze betrachteten die gezielte Förderung von Handel, Produktion und Bevölkerung als zentrale Staatsaufgabe. Zuwanderung wurde nach ihrem Nutzen für Wirtschafts- und Steuerkraft sowie für das Militär bewertet und entsprechend gefördert oder behindert (Nipperdey, S. 203–221)². Nicht die individuelle Freiheit, sondern der Staatsnutzen stand im Mittelpunkt.
Die Verwaltung entwickelte im 18. Jahrhundert immer exaktere Methoden, Menschen zu erfassen, ihre Mobilität zu kontrollieren und Migration als Ressource systematisch zu steuern. Mit der Entwicklung der ersten systematischen Sterbe- und Geburtenregister sowie der Einführung regelmäßiger Volkszählungen entstanden die empirischen Grundlagen moderner Bevölkerungsstatistik.¹ Bevölkerungswissenschaftler wie Johann Peter Süßmilch trugen dazu bei, das Denken über Bevölkerung quantifizierbar, also statistisch fassbar und planbar zu machen (Nipperdey, S. 412–421)². Migration galt nun als Werkzeug gezielter Steuerung von Arbeitsmärkte, Siedlungsstrukturen und gesellschaftlicher Entwicklung.
Im 19. Jahrhundert gewannen biologische Erklärungsmodelle an Einfluss, insbesondere die Theorien von Thomas Robert Malthus, der warnte, dass Bevölkerungswachstum schneller zunehme als die Nahrungsmittelproduktion und daher zwangsläufig zu Kriegen, Hungersnöten und Seuchen führe. Diese malthusianischen Ideen prägten die Bewertung von Migration erheblich: Zuwanderung galt als problematisch, wenn sie die Ressourcenknappheit verschärfte, als vorteilhaft, wenn sie wirtschaftliche Expansion ermöglichte. Gleichzeitig entstanden aber auch Gegenbewegungen, die betonten, dass Bevölkerungsentwicklung und Migration nicht nur von biologischen Gesetzmäßigkeiten, sondern maßgeblich von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen abhingen.¹
Auch namhafte politische Theoretiker wie Hobbes, Pufendorf und Wolff begründeten die Legitimation staatlichen Eingreifens mit dem Ziel, die öffentliche Ordnung, Sicherheit und das Gemeinwohl zu sichern. Sie argumentierten, dass Bevölkerung und Migration aktiv vom Staat gemanagt werden sollen, um die Stabilität und Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens zu gewährleisten (Nipperdey, S. 395–400)².
Die Entstehung staatlicher statistischer Ämter im 19. Jahrhundert professionalisierte die Erfassung und Kategorisierung von Migrationsbewegungen weiter. Diese institutionelle Entwicklung schuf die Grundlagen für eine immer systematischere Verwaltung und Kontrolle von Zuwanderung, wobei Menschen zunehmend nach ihrer vermeintlichen gesellschaftlichen Nützlichkeit kategorisiert und entsprechend behandelt wurden.¹
Für die Geschichte der deutschen Migration bedeutet das: Bereits seit dem 17. Jahrhundert war Bevölkerungsbewegung keine private Angelegenheit mehr, sondern vom Staat gesteuert, verwaltet und stets unter dem Aspekt des Nutzens bewertet. Diese wissenschaftlich untermauerte Funktionslogik, die Migration als plan- und steuerbare Größe betrachtete, entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu differenzierteren Ansätzen weiter, die auch soziale und individuelle Faktoren berücksichtigten, ohne jedoch die Grundidee staatlicher Lenkung aufzugeben¹. Diese frühneuzeitliche Funktionslogik prägte die Entwicklung deutscher Migrationspolitik und rechtlicher Kontrollmechanismen noch über Jahrhunderte hinweg (Nipperdey, S. 433–441)².